Gabriele Weingartner im Gespräch über Persilscheinparty

Auszug aus dem Epilog

Deutschland Ende der Fünfzigerjahre, ein gutes Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg. In einer prototypischen Kleinstadt erlebt eine Handvoll Kinder den Sommer zwischen Grundschule und Gymnasium – so sie denn die entscheidende Prüfung bestehen. Gabriele Weingartner ist 1948 geboren, entsprechend lebendig und detailgenau gelingen die Einzelheiten, die die Kulisse der miefigen Wohnungen und repräsentativen Geschäftsräumlichkeiten ausgestalten. Ich, Gabrieles Lektorin, bin 1981 geboren; Gabrieles Kindergegenwart kenne ich bestenfalls aus Erzählungen meiner Eltern und Großeltern. Bestenfalls weil: Besonders gesprächig war und ist die Kriegs- und Wiederaufbaugeneration nicht. Mein verstorbener Großvater (Jahrgang 1929) war – sicher nicht als Einziger – der Meinung, man sollte mit der Beschäftigung mit Kriegsverbrechen und Ähnlichem doch warten, bis alle Betroffenen tot seien, dieses andauernde Staub-Aufwirbeln behagte ihm nicht.
Eine Sprachlast, ein Sprachunvermögen eint die Figuren, die Kinder wie die Eltern leiden darunter. Das Nichts-Sehen, Nichts-Hören, Nichts-Fragen, Nichts-Sagen, das alle so gewöhnt sind, lässt sich nicht einfach ablegen, nur weil der Krieg vorbei ist. Franzi, der Stotterer, leidet an Sprachverstopfung, wie seine Mutter es ausdrückt – es nutzt auch nichts, wenn er sich mehr anstrengt –, und organisiert seine Kommunikation in Stotterwörtern und buchstäblich einsilbigen Satzkonstrukten; schriftlich erblüht sein Sprachvermögen und lässt seine Lehrerin ob der Fantasie und des reichen Wortschatzes zur beglückten Leserin werden […]. Da sind die Väter und Ehemänner, die nicht reden wollen und nicht reden können über ihre bodenlose Schuld und das Grauen, die sich spalten in zwei Personen oder ihre Last beichtend an ihre Frauen weitergeben, die sie aber auch nicht ertragen können. Es wird verschwiegen, umgedeutet, gelogen, verbogen, nicht gefragt, nicht zugehört, nicht geantwortet, und wenn doch jemand den Mund aufmacht, kommen Kälte und Floskeln heraus: Das war eine schlimme Zeit, seid froh und dankbar, dass es wieder aufwärts geht. Weinen könnte man ob dieser blinden Stummheit …

Gabriele, welche Rolle spielt das Thema Versprachlichung für dich als Autorin? Deine Passion und dein Beruf sind ja, Dinge in Worte zu fassen – ist das für Nachkriegskinder von besonderer Bedeutung?

»Ganz gewiss. Wobei es mir im Alter von zehn vermutlich nicht anders erging als Oskar, Franzi und Georg. Zur Ehre meiner ansonsten in ihren Erziehungsmethoden recht rabiaten Mutter, die eine große, die ganze Verwandtschaft und alle meine Schulkameradinnen faszinierende Erzählerin war, kann ich jedoch berichten, dass bei uns nicht geschwiegen wurde. Zumindest fasste ich dies ab einem gewissen Alter so auf. Weder über die unglückliche Existenz meines Vaters beim Militär noch darüber, dass meine Mutter ihn vor der Ostfront rettete und ihn in einem Aktenverschlag versteckte, nachdem ihn die noch übrigen Nazis in unserer kleinen Stadt zum letzten Gefecht einberufen wollten. Immer wieder fütterte mich, fütterte uns meine Mutter mit zeittypischen Anekdoten, der eine große Zusammenhang aber fehlte. Das heißt, auch der erste, von 1963 bis 1965 in Frankfurt stattfindende Auschwitz-Prozess hinterließ in unserer Familie erst einmal kein Echo. 1965 aber brach dann doch etwas auf zwischen meiner Mutter und mir, und zwar als im März 1966 im Fernsehen, sehr, sehr spät in der Nacht, Die Ermittlung. Oratorium im 11 Gesängen von Peter Weiss gesendet wurde. […] Weiss hatte am Prozess teilgenommen und sein dokumentarisches Stück nach Protokollen des Journalisten Bernd Naumann entwickelt. Bernd Naumann war berühmt für seine Berichterstattung, ja, er wurde zum späten Aufklärer all jener, die die richtige Zeitung lasen, zwanzig Monate lang die FAZ in diesem Fall, wobei er chronologisch die einzelnen Abschnitte des Verfahrens schilderte und häufig die Aussagen der Angeklagten und Zeugen für sich sprechen ließ.
Ich weiß noch, dass wir still zusammen vor der Glotze saßen, wie eingefroren, wir schwiegen bis zum Schluss und trennten uns schweigend, fassten uns auch nicht an. Die Erdnussflips standen noch auf dem Tisch, wir hatten es uns ja gemütlich machen wollen. Wir haben sie nicht angerührt, weiß Gott, was wir uns vorgestellt hatten, wie dieser Abend verlaufen würde. Irgendwie waren wir nun aufgewacht, empfänglich geworden für alles, was im Radio, im Fernsehen, in der Literatur Einschlägiges passierte. Wir schauten uns auch Heinar Kipphardts Stück In der Sache J. Robert Oppenheimer an oder Bruder Eichmann, als ich Anfang der Achtziger mal eine Woche zu Hause war. Das Interesse meiner Mutter in Sachen NS ließ nicht nach. Ich finde das schon bemerkenswert.
Sie war es auch, die mich auf die Gottbegnadeten aufmerksam machte, die 1944, in der Endphase des Krieges, noch schnell auf die Liste des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda gesetzt wurden. Das betraf zahlreiche Schauspieler und Schauspielerinnen, die wenig später in den an Seichtheit nicht zu überbietenden Nachkriegsfilmen auftraten, Paul Hörbiger etwa, der so gerne als Kaiser Franz Joseph als falscher Gärtner hinter einer Buchsbaumhecke hervorlugte, übrigens auch in dem Film Der schönste Tag meines Lebens, worin der Direktor der Wiener Sängerknaben gleichfalls ein verkappter Gärtner ist. Paul Klinger und Margarete Haagen, die in Die Mädels vom Immenhof als Reitlehrer und Großmutter Hauptrollen spielen, waren ebenfalls gottbegnadet. Die beiden Filme stehen im Roman zur Debatte, als Onkel Pàl mit Mira und Franzi ins Kino geht.«

Sammeltassen und Tupper-Seufzer

Gabriele Weingartner arbeitet dualistisch, beinahe dialektisch, könnte man sagen; sie stellt einer Seite jeweils den Kontrast gegenüber – die Synthesis allerdings bleibt offen, die Sache ist noch nicht erledigt, ich als Leserin bin gefordert. Da sind die Kinder, die den Erwachsenen begegnen; da sind diejenigen, die sich nach dem Krieg unerbittlich wieder hocharbeiten, und die, die kein repräsentatives Geschirr mehr für ihre passiv-aggressive Vitrine haben – die Schuld spiegelt sich unerträglich in den leeren Scheiben. Da sind die Kleinbürger, Einwohner einer braven Stadt, und die Geflüchteten aus Ungarn, die Exoten wie Zucchini mit sich bringen und obendrein Künstler, Maler, Schreiber, Musiker, Akademiker sind. Da sind die Männer, die ihre Patriarchenpositionen wieder eingenommen haben – dafür reicht das eine verbliebene Bein –, und da sind die Frauen, die am Aufschwung mitarbeiten, Romane lesen, geschäftstüchtig und hart sind, die aber trotzdem niemand ernst nimmt. Da sind die Mädchen, die Verkäuferinnen oder Stenotypistinnen werden, egal wie klug sie sind, und die Jungen, die es nicht aufs Gymnasium schaffen müssen, um das väterliche Geschäft übernehmen zu können.
Überaus spannend sind die Elemente, die auch heute noch zum Alltag gehören und deren solides Image zum unheimlichen Vexierbild wird. Die Kinder verwenden Uhu-Kleber – eine deutsche Traditionsmarke, deren Belastbarkeit unter anderem durch KZ-Häftlinge im Rahmen von Todesmärschen mit eigens geklebten Schuhen getestet wurde –, sie essen Bahlsen-Kekse – ebenfalls verkörperte deutsche Wirtschaftsgeschichte; Bahlsen wusste als kriegswichtiger Betrieb auch mithilfe von Zwangsarbeitern zu reüssieren –, es gibt Coca-Cola, den flüssigen Inbegriff des siegreichen Kapitalismus. Die Mütter erfreuen sich am Seufzen des Must-haves Tupperware – auch die Tupper Plastic Company profitierte vom Krieg und stellte unter anderem für das US-amerikanische Militär Teile von Gasmasken her – und können mit Tuppers Hilfe ihre beiden Leben als Geschäftsfrau und Mutter besser unter einen Hut bringen; sie essen Frankfurter Kranz mit übelkeitserregenden Mengen an Buttercreme und beteuern, früher schlank gewesen zu sein […]

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