Ralf Schlatter im Gespräch über Die 7½ Leben des Paul Ungewitter
Ralf Schlatter im Gespräch mit Merle Rüdisser über Die 7½ Leben des Paul Ungewitter
Was für eine raffinierte Konstruktion, lieber Ralf! Du hast in die Geschichte mehrere Ebenen eingezogen, die allesamt ständig daran erinnern, wie unzuverlässig der Erzähler ist, der auf den ersten Seiten zudem in aller Offenheit ankündigt, diesem Paul Ungewitter Leben anzudichten – und doch gerät man in jeder Episode in den Sog des Erzählers und glaubt ihm jedes Wort. Du hast es geschafft, deine Pauls ganz verschieden zu charakterisieren – wie ist dir das gelungen?
Die Entstehungsgeschichte dieses Buches ist speziell. Ich hatte lediglich die ersten paar Sätze, also die Beschreibung der Hauptfigur Paul Ungewitter, skizziert, als mich Limbus Verleger Bernd Schuchter fragte, ob ich vielleicht etwas hätte fürs Jubiläumsprogramm. »Ein paar Sätze, mehr nicht«, gab ich zur Antwort, und mal sehen, ob über den Sommer (2024) was draus werde. Dann, in einer Ferienwoche im Tessin, begann plötzlich eine Geschichte in meinem Kopf zu reifen, die Woche darauf war ich zu Hause in Zürich und hatte nichts vor, die Stadt war im Sommerferienmodus, und ich packte den Laptop ein und fuhr mit dem Fahrrad von Café zu Café und schrieb drauflos, auch in der Zentralbibliothek und im Freibad, ich schrieb und schrieb, und nach – kein Scherz – ziemlich genau 7½ Tagen war das Buch fertig. So etwas ist mir noch nie passiert, und es verwundert mich bis heute, wo das alles in diesem Tempo herkam. Es war wie ein Rausch, völlig intuitiv, und ich kann nicht mehr genau sagen, wie sich das alles fügte. Ich weiß nur noch, dass ich für die Episoden von einzelnen Oberthemen ausging: Liebe, Schuld, Geld, Sport, Tourismus bzw. der eigene Blick auf die Welt …
Ich musste beim Lesen bald einmal an Lola rennt denken – du hast gesagt, die Parallelen hast du selbst gar nicht bemerkt. Was waren deine Inspirationen für die Konstruktion? Gab es überhaupt welche?
Meine letzten Bücher spielten immer mit dem Faktor Zeit: Bei Sagte Liesegang war es ein Leben, bei Steingrubers Jahr ein Jahr, bei Muttertag ein Tag, bei 43’586 eine Woche, bei Des Reimes willen Henk eine Stunde. Nun war die ursprüngliche Idee, dass die Figur in jeder Episode aus dem Café hinausgeht, und die nächsten fünf Minuten entscheiden über das weitere Leben. Das erschien mir dann aber zu einengend, und so ergab sich die Konstruktion, dass sie zwar am Ende immer stirbt, aber nach sehr unterschiedlichen Zeitspannen. Und ja, an Lola rennt dachte ich dabei gar nicht. Die Inspiration kam wohl vom Leben selbst, von dieser ebenso drängenden wie unergründlichen Frage nach dem Warum und dem Verhältnis zwischen Schicksal und Zufall. Dazu kam eine Art »theatralischer Spieltrieb«: Ich gebe einem Menschen, den ich beobachte, verschiedene Geschichten, verschiedene Versionen seiner selbst.
Neben den dein Schreiben seit geraumer Zeit begleitenden Themen Liebe und Tod ist mir die von dir schon als Überthema erwähnte Schuld gleich aufgefallen – Schuld an Unfällen, Schuld gar durch Verbrechen. Wie ist das mit der Schuld?
Als ich entschied, dass ich die verschiedenen Leben immer bis zum Tod erzähle, musste ich mich wohl oder übel mit Schuld beschäftigen, denn sieben natürliche Tode wären langweilig gewesen. Wobei ich den Begriff der Schuld als seltsam erachte, von religiösem Machtdenken geprägt und sehr vereinfachend: Jemand ist schuld und Punkt. Die Dinge sind aber komplexer, als wir sie gerne hätten. Es sind Verkettungen von Umständen, von Ahnengeschichten, von Verhältnissen, die alle wiederum ihre Geschichten haben. Das fand ich spannend zum Darstellen.
Glaubst du an das Schicksal? Oder mehr an den Zufall?
Eine große Frage … An ihr haben sich schon sehr gescheite Leute wie C. G. Jung den Kopf zerbrochen. Seit ich – dank meiner Frau Ruth Grünenfelder, die als Vogelbeobachterin unterwegs ist – oft und mit offenen Sinnen draußen bin, glaube ich mehr denn je, dass alles miteinander verbunden ist, auf einer Ebene, die wir gar nicht – oder schon lange nicht mehr – wahrnehmen. Weil der Mensch diese Verbundenheit verloren hat, erfand er Begriffe wie »Zufall« und »Schicksal«, um das alles begreifbar zu machen. Es zeugt letztlich von unserer mangelnden Demut und unserer Entfremdung von der Mitwelt.
Und dann spielt der Roman in einer Weltstadt … Paris als Schauplatz hat den Vorteil, dass man einführend gar nicht viel beschreiben muss – jede*r Leser*in hat eine Vorstellung von Paris, in die eine Geschichte direkt einsteigen kann. Du schöpfst mit den kleinen Balkonen, den Cafés, Restaurants und Bistrotischen, den Buchhandlungen und dem Weißwein ungeniert aus dem Vollen, den Kitsch jedoch souverän umschiffend. Warum Paris?
Da muss ich kurz ausholen: Anfang 2024 bekam ich eine Nachricht aus Bristol, von einer Erwachsenenbildnerin, die in einer Deutsch-Lesegruppe mein Kurzgeschichtenbuch 43’586 las und fragte, ob es eine Lesung daraus auf YouTube gebe. Ich schlug vor, nach Bristol zu kommen und das live zu machen. Also nahm ich den Zug via Paris und London. Ich ließ aber meinen Pass zu Hause und strandete in Paris, fuhr am gleichen Tag nochmal nach Basel, wo mir meine Frau den Pass gab, und wieder zurück nach Paris, und am Morgen drauf nach England. Dort gabs nochmal Zugsausfälle und Verspätungen, und fünf Minuten vor Beginn der Veranstaltung war ich da. Auf dem Rückweg hatte ich vier Stunden Aufenthalt in Paris und landete im »Café des Livres«. Dort schrieb ich die ersten Zeilen des Buches in ein kleines Notizheft, das im Hotel in London im Zimmer gelegen hatte. Drauf steht: »Great fiction, works of art or rude poems. They all start here.« Nach dieser verrückten Reise war mein Geist offenbar sehr frei. Alles war möglich. Und Paris war der perfekte Ort dafür. Die Café-Katze, die mir auf die Knie sprang, tat dann das Übrige. Und noch ein Fun-Fact sei an dieser Stelle verraten: Wer die Routen von Paul Ungewitter nachspazieren möchte, wird zwangsläufig scheitern, die Namen aller Straßen und Plätze sind frei erfunden. Wie gesagt: Alles ist möglich.
Eine Geschichte, die eines Paul Ungewitter würdig wäre! Erfundene Straßennamen erleichtern nebenbei bemerkt das Lektorat ein wenig, da muss man zumindest das nicht kontrollieren … Noch ein eher untypisches Thema für dich: Sport. Magst du Sport?
Ich mag Bewegung, ich mag es, ins Schnaufen zu kommen, den Puls zu spüren, sei es auf dem Fahrrad, beim Joggen, beim Langlaufen oder beim Bergwandern. Der Körper wird in unserer rationalen Welt viel zu sehr unterschätzt, er ist viel wichtiger und hat ein viel besseres Gedächtnis, als wir wahrhaben wollen. Wenn ich zum Beispiel lange nicht mehr auf der Bühne gestanden bin, nach der Sommerpause, habe ich immer Angst, ich kenne den Text unseres Stücks nicht mehr. Aber kaum stehe ich dann da, im Körper und in der Haltung der Bühnenfigur, ist jedes Wort wieder da. Es ist eingeschrieben. Dem wettkampfmäßigen Sport hingegen, den ich als Jugendlicher machte, habe ich abgeschworen. Der krampfhafte Ehrgeiz im Breitensport ist sehr bedenklich. Aber noch immer kann ich an keinem auch noch so kleinen Fußballspiel vorüberfahren, ohne kurz anzuhalten, denn – wie schon Peter Bichsel zu sagen pflegte – es erzählt eine Geschichte.
Und was sind deine nächsten Projekte?
Ab September bin ich wieder mit schön&gut unterwegs, in der ganzen Deutschschweiz, mit unserem neuen Kabarettstück Unter freiem Himmel. Und von wegen Himmel: Kürzlich bin ich, nach rund dreißig Jahren Zürich, mit meiner Frau aufs Land gezogen. Mein Schreibtisch steht jetzt zuoberst im Dachwinkel eines alten Bauernhauses, mit ganz viel Himmel vor mir. Ich bin gespannt, was mir dort so alles zufliegt.