Lukas Meschik im Gespräch über seinen Roman Die Würde der Empörten
»Ich glaube, man denkt viel zu sehr ans Meer – vergessen wir bitte die Axt nicht.« – Lukas Meschik im Gespräch mit Merle Rüdisser
Fangen wir mit Sex an! Als Leserin habe ich zu Sexszenen offen gestanden ein gespaltenes Verhältnis, in den meisten Fällen bin ich unangenehm berührt. In deinen Büchern haben Sexszenen aber keine bloß erotische Funktion, sondern sind wie andere Szenen Teil der Handlung und erzählen etwas über die Figuren, das sich auf anderem Weg nicht erzählen ließe. Wie siehst du das als Autor? Und als Leser?
Von der Frage bin ich ebenfalls etwas peinlich berührt – was sehr gut passt, weil ich auch beim Schreiben dieser Szenen oft peinlich berührt bin. Das muss so sein. Ich würde niemals behaupten, eine restlos gelungene Sprache für Körperlichkeit gefunden zu haben – eine ehrliche, authentische, klischeefreie. Aber ich gebe mir Mühe und es freut mich, wenn diese Szenen nicht als aufgesetzt herausstechen, sondern als relevanter Teil der Handlung empfunden werden. Im Roman haben sie sich aufgedrängt, sie haben eine klare Funktion: Es geht um Traumatisierung, das verzweifelte Suchen von Nähe, Oasen der Zweisamkeit in einer untergehenden Welt. Man verleiht Preise für schlechte Sexszenen; wahrscheinlich gibt es überhaupt keine guten, wir befinden uns da in einem Minenfeld übler Metaphern und unzulässiger Objektifizierung. Hier gilt wie insgesamt fürs Schreiben: am besten nicht zerdenken – Augen zu und durch!
Du bist als Schreibender sehr in die Literatur eingebettet, die du gelesen hast. Man stößt in Die Würde der Empörten reichlich auf Zitate und Anspielungen, von den offensichtlichen wie Kafkas Verwandlung und Dystopien wie Schöne neue Welt über verstecktere wie Thomas Bernhard bis zu Songzitaten. Welche Bedeutung haben diese Bezüge für dich?
Jedes eigene Schreiben ist ein Rudern mit seiner winzigen Nussschale in einem Meer des Gelesenen. Lektüreerfahrungen schwingen beim Arbeiten mit, mal bewusst, mal unterschwellig. Anspielungen und Verweise halten mich einerseits selbst bei Laune, als Insidergags, die vielleicht keiner versteht – andererseits stellen sie eine Komplizenschaft mit den Lesenden her, die ich als Buchmensch für meine Verbündeten halte. Die genannten Beispiele sind logische Verweise, weil diese Texte Inspirationsquelle für mich waren, weniger was das Handlungsgerüst betrifft, als vielmehr in Bezug auf die vermittelte Stimmung, ein kribbelndes Unbehagen.
Der Roman spielt offensichtlich in der Jetztzeit und verhandelt drängende Fragen, was unumstritten Wichtigkeit hat. Wenn man Die Würde der Empörten liest, denkt man natürlich an die Pandemie, an Pegida und Wutbürger, aber alles ist irgendwie ins Allgemeingültige transferiert. Wie bist du aber an die Problematik der kurzlebigen Aktualität herangegangen, und gab es einen Punkt, an dem du erkannt hast, dass die Zusammenhänge und Fragen größer sind?
Diese Überlegungen standen für mich im Mittelpunkt. Nicht erst mit Protestbewegungen wie Pegida oder mit der Pandemie sind Fragen grundlegender Natur aufgekommen: Wer darf wann in welcher Form über wen bestimmen? Wann ist Protest legitim? Unterm Strich geht es um die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Die abstrakte, etwas feige Antwort lautet, dass es uns niemals zu mühsam sein darf, all das stetig weiter auszuverhandeln. Mir war wichtig, es allgemeingültig zu halten: So wie es für Unruhestifter irrelevant ist, ob man jetzt gegen Flüchtlingspolitik, Pandemie-Maßnahmen oder sonstwas protestiert, so sind bei Grundsatzfragen die Details nicht so wichtig. Absichtlich klingen reale Ereignisse nur an, interessanter ist, was mit den einzelnen Menschen passiert; welche Farbe der Stachel hat, der uns im Fleisch sitzt, ist zweitrangig. In manchem war ich der Zeit voraus. Es heißt etwa immer wieder, wir befänden uns in der »Vorzeit eines Krieges«; den gibt es jetzt, direkt vor unserer Haustür. Seit einigen Jahren liegt mit diesen multiplen Krisen eine Brüchigkeit in der Luft, die ich im Roman aufgreife und weiterdenke. Wahrscheinlich muss man kein lebendiger Seismograf sein, um das zu spüren.
Ich bin und bleibe ratlos. Wir alle wollen mündige Bürger sein, die Welt kritisch beäugen, sollen auch am »System« zweifeln, was immer das ist – aber es gibt den Kipp-Punkt, wo es umschlägt in toxische Skepsis, zur destruktiven Staatsfeindlichkeit wird. Der wache Geist, den wir fördern und fordern, wird irgendwann giftig und gefährlich. Ich wollte beschreiben, wo das endet: in einer Katastrophe. Aber Vorsicht: Jeder denkende Mensch wird im Bösewicht einiges von sich selbst erkennen.
Dein Ich-Erzähler scheut sich nicht, Unschönes anzusprechen, die Lesenden aus ihrer Komfortzone zu schubsen, in der sie sich auf der richtigen Seite wähnen. Sich etwa pauschal von den Spaziergängern abzugrenzen, lässt du niemandem durchgehen; andererseits liest man Sätze, die vor den Kopf stoßen – »Jede Frau sehnt sich insgeheim nach Gewalt« –, denen man niemals zustimmen würde. Dann folgt der Gedankengang, und man kommt ins Grübeln.
Ehrlich gesagt ist das schon ein gewisser Reiz: nicht provozieren um der Provokation willen, aber produktiv zu verstören, um im besten Fall einen Erkenntnisprozess in Gang zu setzen. Das Unerhörte besitzt oft einen erschreckenden Wert, indem es uns herausfordert, uns zu misstrauen. Um zum lieben Kafka zurückzukehren: Wir alle kennen seinen Ausspruch mit der Axt und dem gefrorenen Meer in uns. Ich glaube, man denkt viel zu sehr ans Meer – vergessen wir bitte die Axt nicht. Wie geht es weiter? Die Axt tut etwas, und das ist ein ziemlich brutaler Akt. Ich, also der Mensch Lukas Meschik, stimme selbstverständlich sehr vielen Sätzen meines Erzählers nicht zu, deshalb ist es ja ein Roman und kein unter meinem Namen erschienenes Sachbuch. Das soll keine billige Ausflucht sein, eine Entschuldigung, alles sagen zu dürfen – es ist der Sinn erzählender Texte, auch das Unsagbare in Worte zu fassen. Als Leser schätze ich es übrigens sehr, von Ideen, Bildern in Büchern vor den Kopf gestoßen zu werden. Wenn wir Heimeligkeit und Bestätigung suchen, dann sollten wir uns in Zuckerwatte packen und zu Hause einsperren. Ich möchte keine Bücher schreiben, die in die Erstleser-Abteilung gehören, sondern Literatur für Erwachsene. Bei Erwachsenen setze ich ein gewisses Maß an Verstörungstoleranz voraus. Sonst bitte ab ins Bällebad!
Unverkennbar ist eine direkte Linie von der Einladung zu Anstrengung zu diesem Roman. Vorausgesetzt, ich täusche mich nicht: Gibt es Überschneidungen, was die Entstehung des Romans angeht, haben sich Gedankengänge oder Handlungsstränge aus dem Essay heraus entwickelt?
Absolut. Das hier ist die Weiterführung der angerissenen Fragen in Romanform. Der Ich-Erzähler macht ja anfangs Notizen zur Diskussionskultur im Zeitalter sozialer Medien – eine Anspielung auf mich selbst, damit wollte ich mich ein bisschen auf die Schaufel nehmen. Essay und Roman folgen anderen Gesetzen und haben je eigene Funktionen. Der Roman schlüpft in Menschen und spielt durch, was die Erfahrungen und Gedanken mit ihnen machen, wenn man sie zu Ende denkt. Beim Essay habe ich mich dazu verstiegen, wenigstens für mich Lösungsansätze zu formulieren – der Roman ist frei von dieser Anmaßung. Vielleicht ist der Essay die Utopie und der Roman die Dystopie. Die Würde der Empörten ist kein Pflaster, sondern beschreibt die Wunde, die Welt, in der wir uns befinden.
Vielen Dank für das ausführliche Gespräch!