Gabriele Weingartner im Gespräch über ihren Roman Leon Saint Clairs zeitlose Unruhe
Das Gespräch mit der Autorin führte Merle Rüdisser
Liebe Gabriele, du hast dich in den vorangegangenen Romanen Tanzstraße (2010), Villa Klestiel (2011), Die Hunde im Souterrain (2014), Geisterroman (2016) – grob gesagt – mit Zeitgeschichte und mit deiner eigenen Familiengeschichte befasst. Davon hast du dich nun weit entfernt: Der Protagonist ist ein Mann, der Roman spielt gelinde gesagt weit außerhalb deiner Biografie. Wie ist es denn dazu gekommen?
Ich war an einem Punkt angelangt, wo ich nicht mehr im alten Fahrwasser weiterschreiben wollte. Gewiss, Familienromane und Zeitgeschichte sind niemals »out«, ich wollte aber durch die Weltgeschichte segeln, in großen Zusammenhängen denken und schreiben, Kontinuitäten aufzeigen, die ewigen Verletzungen, die gleichbleibenden Einsamkeiten, die immer wieder aufbrechende Euphorie und die Lust an Veränderung. Ich habe dich damals gleich gewarnt: Das ist ein bisschen größenwahnsinnig. Ich hatte mir auch vorgenommen, aufzuhören, wenn mein Projekt nicht realisierbar ist.
Davon konnte ja keine Rede sein! Gemeinsamkeiten mit den vorigen Romanen gibt es aber doch: Diese Einsamkeit zieht sich durch alle deine Bücher, auch die Suche nach dem Herkommen, nach dem, was jemanden gemacht und geformt hat, die Frage, ob das Zusammenleben der Menschen funktionieren kann – oder niemals. Aber glaubst du überhaupt an solche grundsätzlichen Fragen, die eine Schreibende bewegen?
Die Frage nach dem Zusammenleben der Menschen ist ja eigentlich die Kardinalfrage aller Schreibenden, sonst könnte man nicht über Einsamkeit schreiben, die sich stets als dessen Kern entpuppt. Die Frage wird aber zum Säuseln im Hintergrund, sie verschwindet wie jedes Postulat, das ich selbst als Leserin an einen Roman habe: wie die Gestaltung von Zeit und Raum und Geschichte und – fast am wichtigsten – die Erkenntnisinteressen und Entwicklungsbedürfnisse meiner Gestalten. Mit Leon ist mir ja zum ersten Mal ein Mann, ja sogar ein naiver Held in den Text gesprungen. Der hat es mir manchmal schwer gemacht mit seiner Indolenz. Ich war sehr froh, als er endlich wissbegieriger wurde, etwas weniger verspielt, wenn auch nicht unbedingt erwachsen. Sein Sinn für Tragik bleibt ja bis zum Ende mangelhaft.
Genau, kommen wir zu deinem Taugenichts: Leon Saint Clair ist unsterblich und hat auf diese Art die Möglichkeit, quer über den Globus und durch die Zeiten Zeuge und Zeitgenosse ungeheuer vieler Geschehnisse zu werden. Ich muss gestehen, dass ich mir, als du mir das erste Mal von den Plänen für diesen Roman erzählt hast – Ende 2016, Anfang 2017 muss das gewesen sein –, ein paar formale Sorgen gemacht habe. Ein unsterblicher Protagonist ist ja nicht so einfach zu handhaben, und dann kommt noch dazu, dass er seine Geschichte dem Publikum selbst erzählt! Sind da beim Schreiben Schwierigkeiten aufgetreten? Obwohl: Mein Eindruck war ja eher, dass sich wie von Zauberhand alles ergeben und entwickelt hat.
Das war auch so, ehrlich gesagt: Zauberhand, Wunder, Magie, nenn es, wie du willst, das Allermeiste hat sich gefügt wie in einem riesengroßen Puzzle, in dem am Ende die am weitesten voneinander entfernten Teile sich geradezu selig mechanisch ineinander verzahnten. Frag nicht, warum Leon hierhin oder dorthin reiste, ich weiß es nicht, auf seltsam schräge Weise erfüllte er die Gestaltungswünsche seiner Schöpferin. Dass er in einigen Fällen an der Weltgeschichte vorbeischrammte, manche Sachen einfach nicht wissen kann, Personen begegnete, die sich erst sehr viel später als spannend erwiesen, hat mir immer wieder leid getan. Das angefügte Glossar bot mir allerdings Gelegenheit, die Lücken ein bisschen zu füllen. Tatsächlich hätte ich fast einen Neben-Roman schreiben können mit den Lücken …
Naja, aber es gibt ja nicht nur Lücken. Die vielen Details, die du teilweise nur antippst, machen den Roman ungeheuer farbig und lebendig – er quillt regelrecht über vor Figuren, Interieur, Sinneseindrücken. Wie bist du bei der Recherche vorgegangen? Oder anders gefragt: Wie groß muss deiner Ansicht nach der Anteil der beweisbaren Fakten sein, um glaubwürdig erzählen zu können?
Ich glaube, dass gewisse eine Rolle spielende Details historisch überprüfbar sein sollten – zum Weiterarbeiten. Abgesehen vom ohnehin selbstverständlichen Einlesen in die jeweiligen Zusammenhänge habe ich allerdings erst einmal nur drauflos geschrieben, so lange, bis ich auf Unwägbarkeiten stieß, die ich sofort klären musste. Wenn dies im Netz nicht ging, war ich gezwungen, mir das entsprechende Material zu beschaffen. Viel Zeit hat man da nicht, jede Pause geht einem furchtbar auf die Nerven. Aber du meinst noch mehr, ich weiß. Es geht um die allumfassende Intuition, die man entwickeln muss, die Gewissheit, dass etwas nur so und nicht anders gewesen sein kann, nicht gefühlsmäßig, obzwar das manchmal auch sehr schwierig ist, sondern tatsächlich.
Meinst du damit zum Beispiel die Sache mit den Perücken?
Exakt. Was haben die Menschen mit ihren Perücken gemacht, die ihnen die Mode aufgezwungen hat? Ich meine nicht die hohen Herren mit ihren pompösen Ungetümen auf dem Kopf, sondern die »kleinen Leute«, die damit ihren Alltag bewältigen mussten, Fuhrleute, Diener, der Notenstecher Stangerl in meinem Roman etwa. Oder Menschen, denen es zu wohl wird, abends in der Kneipe, beim Tête-à-Tête im Bordell? Bei Frauen bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, dass sie mit ihren Haarteilen um sich werfen könnten. Vielleicht gab es dagegen auch ausdrücklich Sanktionen, wer weiß. Jedenfalls habe ich mich unglaublich gefreut, als mir vor nicht allzu langer Zeit Thomas Pynchons grandioser Roman Mason & Dixon in die Hände fiel und dort die Dinger ähnlich wie bei mir durch die Gegend gepfeffert wurden.
Wie bist du bei den berührenden, eindrücklichen Kapiteln, die in der Sowjetunion spielen, vorgegangen? Wie ist dir diese furchtbare Atmosphäre in der Kommunalka so plastisch gelungen?
Da muss ich auf zwei Referenzen verweisen: Der russische Künstler Ilja Kabakov machte aus seiner nachgebauten Kommunalka eine Metapher für die Ausweglosigkeit der sowjetischen Gesellschaft, die nachgerade universelle Bedeutung erlangte. Und Karl Schlögel betrieb in seinem großen Sowjetunion-Buch »die Archäologie einer untergegangenen Welt«, wie er selbst sagte. Gemessen an Schlögels und Kabakovs Werken ist mein Roman eine Anmaßung! Zumindest ein literarisches Wagnis!