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Erika Wimmer erzählt über ihr Buch Nellys Version der Geschichte

In Nellys Version der Geschichte erzählt Erika Wimmer von Freundschaften, Liebesbeziehungen, Leben und Tod, Verantwortung und Politik – und von der Kunst. Die Autorin im Interview mit Merle Rüdisser
Wie lange zieht sich die Entstehung dieses Romans schon hin? Seit wann begleitet dich die Geschichte? Wie war der Entstehungsprozess?

Ich verstehe den Roman als Hommage an Anita Pichlers Freundinnen und Freunde, die die Südtiroler Schriftstellerin in ihren letzten Wochen in Bozen gepflegt und begleitet haben. Im Grunde habe ich an diesem Buch seit Anitas Tod im Jahr 1997 geschrieben, in immer neuen Anläufen. Von Anfang an war klar: Ich kann darüber nur fiktional schreiben, nicht im Sinne einer wahren Lebensgeschichte. Anitas Biografie wollte ich keinesfalls festhalten oder auch nur andeuten. Es ging mir um die Grundkonstellation: Hier stirbt jemand und rundherum geht das Leben weiter, spielt sich vielleicht sogar ein Lebensdrama ab. Die Figuren haben sich erst allmählich herauskristallisiert, jede mit einer vergangenen und einer gegenwärtigen Geschichte.

David, Svea, Julia und Hanna sind bereit, Valeria in ihren letzten Lebenswochen zu Hause zu pflegen. Glaubst du, das ist so selbstverständlich, wie David meint?

Dass es in der Tat nicht selbstverständlich ist, finde ich traurig und im Grunde auch merkwürdig. Das Sterben ist eine Erfahrung, die nun wirklich jede und jeder von uns machen muss, und zwar nur einmal. Man möchte meinen, dass das Thema auf mehr Interesse stoßen müsste, doch im Großen und Ganzen überlässt man es den Kirchen. Ich bin der Auffassung, dass ein Sterben in Heiterkeit gelingen kann. Unsere Geburt erleben wir nicht bei vollem Bewusstsein, dem eigenen Tod aber könnten wir bewusst begegnen; die Begleitung und Unterstützung eines sterbenden Menschen scheint mir die beste Vorbereitung dafür zu sein.

Was sich durch das ganze Buch zieht, sind das Schreiben und das Nicht-Schreiben. Valeria war Schriftstellerin und für die verstummte Schriftstellerin Nelly wird die Geschichte zum Auslöser, wieder mit dem Schreiben zu beginnen. Kennst du solche Schreibkrisen auch aus eigener Erfahrung?

Die Schreibkrise ist für mich ein Motor. Da sie mich jederzeit ereilen könnte, schreibe ich, soweit möglich, lieber jetzt als später. Das hat natürlich auch etwas mit der ständigen Anwesenheit des Todes zu tun – aber nicht in einem bedrohlichen oder gar depressiven Sinn, im Gegenteil: Da wir jederzeit sterben könnten, sollten wir nichts hinausschieben, wir sollten so intensiv wie möglich leben. Die Schriftstellerin Nelly verstummt, als man ihr im Verlag sagt, dass der Holocaust als Romanthema „nicht mehr gefragt“ sei. Neben der persönlichen ist dies auch eine gesellschaftliche Zumutung. Der Holocaust ist nicht „passé“, nicht jetzt und auch später nicht. Es ging mir um den Widerstand gegen die Dummheit. Das Wissen um die Gegenwart und überhaupt um die Realität kommt zu einem Gutteil aus der Erinnerung. Was Nelly angeht, so habe ich ihre Verweigerung verstanden. Glücklicherweise ist sie aber nicht darin stecken geblieben.

Wie ist es nun mit dem Politischen und dem Privaten? Glaubst du, privates Handeln zieht weitere Kreise, hat größere Auswirkungen?

Dass das Private politisch ist, ist eine Erkenntnis, die die aufmüpfige Generation der späten 1960er Jahre gelebt und verbreitet hat. Ich bin absolut der Meinung: Meine Haltungen sind politisch, meine Sprache ist es, auch was ich esse und woher ich meine Kleidung beziehe. Es ist politisch, ob ich mit meiner Arbeitskollegin als Ellbogentyp, als Intrigantin oder als solidarischer Mensch umgehe. Private Entscheidungen sind politisch, weil sie sich auf andere und damit sehr schnell auf viele auswirken.

Glaubst du, die Protagonisten bleiben in Kontakt?

Unbedingt. Sie sind in einem Maß, wie es selten geschieht, miteinander in Kontakt getreten, das ist ja der Kern der Geschichte. Wie sollte man damit aufhören können? Es gibt nichts Schöneres, als mit anderen wirklich in Kontakt zu sein.

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