Erwin Uhrmann im Gespräch mit Merle Rüdisser über seinen Roman Zeitalter ohne Bedürfnisse
Lieber Erwin, du hast einen Roman geschrieben, der in einer unbestimmten Zeit angesiedelt ist, in der Zukunft jedenfalls. Die Gesellschaft, wie wir sie heute kennen, existiert nicht mehr, keine Politik, keine Wirtschaft, von paradiesischen Zuständen ist die geschilderte Situation weit entfernt – und doch nennst du Zeitalter ohne Bedürfnisse eine Utopie. Warum?
Bedürfnisse sind in der Welt, die ich beschreibe, nicht bestimmend, denn das oberste Grundbedürfnis, jenes der Nahrungsaufnahme, gibt es – zumindest für Erwachsene – nicht. Dieser literarisch-biologische Eingriff macht den großen Unterschied. Die Misere der menschlichen Existenz hat mit der Sesshaftigkeit, dem Ackerbau und dem Horten von Besitz, der Inbesitznahme von Land und der Unterwerfung und Versklavung anderer begonnen. In meinem Buch entwerfe ich eine Gesellschaft, die nicht ideal ist, aber ganz gut funktioniert. Die Frage ist ja: Gibt es überhaupt eine ideale Gesellschaft? Führt das Streben danach nicht automatisch ins Verderben? Ich glaube, es ist grundsätzlich nicht möglich, dass alle Menschen im immerwährenden Glück leben. In der Gesellschaft, die ich schildere, gibt es Tabus, Probleme, aber dennoch schaffen es die Menschen, relativ gewaltfrei zu leben.
Woher kommt die Idee für den Roman, welche Überlegungen standen am Anfang? Gab es einen Auslöser?
Wir Menschen durchleben gerade eine existenzielle Krise mit ungewissem Ausgang. Ich wollte eine Grundfrage stellen: Was müsste anders sein, damit die Menschheit nicht in diese Krise und damit verbunden in die Klimakatastrophe stürzt? Gibt es denn eine Alternative zur Ausbeutung, wie wir sie erleben? Eine Alternative zu einem zerstörerischen Kapitalismus, der scheinbar das Einzige ist, was uns Menschen alle noch miteinander verbindet? Die Alternative wäre: die Bedürfnisse runterzuschrauben, und das sehr weit. Meine Utopie ermöglicht das mithilfe eines biologischen Unterschieds.
Tatsächlich haben die Figuren in deinem Roman weniger Bedürfnisse, als wir sie heute kennen: Ab einem gewissen Alter beispielsweise brauchen sie nicht mehr zu essen. Aber auch Konsumbedürfnisse existieren nicht, das Bedürfnis nach Beziehungen ist sehr reduziert; ein Kind zu haben gilt fast als Makel. Wonach streben Menschen, die all dies nicht mehr brauchen und wollen?
Sie existieren einfach, und ich sehe das als etwas Gutes an. Warum nicht in die Luft schauen, anstatt ständig zu expandieren? Die Menschen in meinem Roman streben jedenfalls nicht nach dem Neuen. Von Wert ist das Beständige, also zum Beispiel ein Gebäude, das der Witterung lange standhält. Im Grunde ist das das Gegenteil von allem, was wir tun. Denn in unserer Welt muss der Gewinn von Quartal zu Quartal steigen, und um das zu erreichen, müssen die Menschen ständig konsumieren. Konsum ist für viele zu einer Sucht geworden. Dafür ist aber auch permanenter Raubbau an Ressourcen und Menschen nötig. Die meisten haben diese Maxime so internalisiert, dass sie auch sich selbst, ihren eigenen Körper, ihre geistige Welt immerzu optimieren wollen. Aber was wäre, wenn man repariert und existiert, anstatt ständig alles zu optimieren?
Kinder zu haben ist aber ein Makel …
Meine Gesellschaft hat natürlich auch Schattenseiten. Kinder sind im Stadtkern nicht gern gesehen. Sie verkörpern das, was der erwachsene Mensch nicht sein will, ein von Nahrung abhängiges Wesen, das Energie verbrennt, also einen Stoffwechsel hat. Genau deshalb habe ich einen jugendlichen Protagonisten gewählt. Seine Perspektive ermöglicht den besten Blick auf diese Gesellschaft und ihre Mängel. Auch das Gemeinwesen ist in meinem Text nicht mehr so wichtig. Es funktioniert mehr schlecht als recht. Das kann man positiv oder negativ sehen. Man ist einfach nicht mehr vernetzt. Würde man die Vernetzung forcieren, bedürfte es wieder höherer gesellschaftlicher Organisationsformen. Mir war eine Sache wichtig: die Abwesenheit von Gewalt. Wenn ich nicht viel besitze, muss ich diesen Besitz nicht ständig schützen. Als Darko und seine Freunde zu einem abgelegen lebenden Bauern kommen, begegnet ihnen der nicht mit einer Waffe. Sie kommen einfach hin, es gibt nirgendwo Misstrauen oder Skepsis. Das wäre doch schon ein Quantensprung, wenn man als Gesellschaft so weit käme.
Die Welt in deinem Roman ist ungemütlich und feindlich; deine Figuren verbringen die meiste Zeit in ihren Wohnungen, sie bewegen sich innerhalb ihrer Hausgemeinschaft, die demokratisch organisiert ist, aber mitunter nach außen mitleidlos agiert.
Ich empfinde diese Welt in meinem Roman, diese Häuser mit ihren tiefen Kellern und ausgedehnten unterirdischen Gangsystemen nicht als ungemütlich. Oft hatte ich beim Schreiben die Zeichnungen von Erwin Moser vor Augen: Da liegen Igel und Eichhörnchen in ihren Höhlen unter der Erde oder im Baum, eine Kerze neben sich, die Decke bis zum Hals, und lesen ein Buch, während draußen der Wind weht. Die Abwesenheit von Konsum lässt in meinem Buch alles gleich grau und fahl wirken. Was mache ich bloß, wenn ich nicht mehr konsumiere? Wenn ich mit dem Vorhandenen zurechtkommen muss? Es klingt vielleicht billig, aber ich bin manchmal so überarbeitet, dass ich, wenn es sich denn ausgeht, am Wochenende eine Stunde lang oder zwei einfach beim Fenster raus in den Himmel schaue. Eigentlich eine Attraktion! Die Mitleidlosigkeit ist ein wichtiger Punkt. Meine Figuren leben in einer Welt, in der man wenig lügen und betrügen muss, weil es kaum Gründe dafür gibt. Da ist dann alles ein wenig nüchterner, denn ich will ja auch nichts von den anderen, oder nur wenig eben. Dennoch ist Mitleid oft eine Frage der Perspektive. Eine Gesellschaft, die sich abschottet, schließt automatisch andere aus. Auf uns bezogen könnte man sich fragen: Warum haben wir so wenig Mitleid mit den Menschen auf der anderen Seite des Mittelmeeres, die der Klimawandel mit voller Wucht trifft?
Verändert sich in diesem Setting das Machtverhältnis zwischen dem und der Einzelnen und der Gruppe, in der man seinen Platz hat?
Das Individuum ist jedenfalls mehr gefordert, zu gestalten. Zwar gibt es kein Gemeinwesen, wie wir es kennen, doch diese Gesellschaft kennt auch Regeln, an die sich alle mehr oder weniger halten. Es sind die ungeschriebenen Regeln, die wir ja auch kennen. In unserer Welt werden diese Regeln oft mit politischen Rahmenbedingungen verwechselt. Immer dann, wenn es heißt, man dürfe »etwas nicht sagen«, und der Wunsch laut wird, eine starke Hand möge eingreifen und das richten. In Wahrheit verhandeln wir als Gesellschaft ständig unsere Spielregeln, ganz unabhängig von irgendwelchen Autoritäten. Das ist vielleicht manchmal anstrengend, aber das Prinzip jeder Demokratie.
Was mir sehr zu denken gegeben hat: Das Wissen ist verloren gegangen. Die Menschen haben vergessen, wie man die Zeit misst, sie kennen nur, was sie direkt sehen können, Namen wie »Wien« oder »Prag« klingen wie aus einem Märchen, über die Beschaffenheit der Welt gibt es keine sicheren Kenntnisse, auch über die Vergangenheit. Glaubst du, dass das Bedürfnis nach Wissen verschwinden kann?
Vielleicht ist der größte Unterschied, dass es keine große Öffentlichkeit mehr gibt. Die Zeitmessung ist einfach nicht mehr notwendig. Man spricht von Tagen, aber Jahre zählt niemand. Das Wissen darum gäbe es, in Büchern, aber das Lesen, auch die Vererbung von Wissen, ist Privatsache. Es gibt auch keine Religionen mehr, vermutlich der gefährlichste Kriegsfaktor in unserer Welt neben Ressourcen und schierem Größenwahn. Für meine Gesellschaft spielt das einfach keine große Rolle.
Vielen Dank für das ausführliche Gespräch!